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Germanistik
 

 
MEMORIA
Herausgegeben von Hans-Gert Roloff
 

Moreno, Joaquín / Szymaniak, Gunnar / Winter, Almut (Hrsg.): Ferdinand Bruckner (1891-1958)
(MEMORIA, Band 10)
ISBN 978-3-89693-532-8 (10/2008)
359 Seiten, Kt., EUR 44,00
 
Zum 50. Todestag Ferdinand Bruckners erinnern wir an einen bedeutenden europäischen Autor, dessen sensationell erfolgreiche Schauspiele aus der Zeit zwischen 1926 und 1930, Krankheit der Jugend, Die Verbrecher und Elisabeth von England, im kulturellen Gedächtnis bewahrt blieben, während sein darüber hinaus reichendes, umfangreiches und vielschichtiges Werk seit seinem Tod zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Eine gewisse Präsenz auf den Bühnen erfährt hinter Krankheit der Jugend, dem in den letzten Jahrzehnten am häufigsten gespielten Stück Bruckners, lediglich noch das im Exil entstandene Stück Die Rassen.
Bruckner war qua seiner Herkunft und Prägung ein Kosmopolit, der in seinem Werk Stoffe und Themen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen und Epochen zur Wirkung brachte – die Nachkriegsjugend des ersten Weltkriegs, das Rechtssystem der Weimarer Republik und Elisabeth I. von England im Ringen mit Philipp II. von Spanien in den oben genannten Erfolgsstücken, aber auch Napoleon Bonaparte und Germaine de Staël, die Kämpfe eines Simon Bolivar und der Gründungsväter der USA um Unabhängigkeit von ihren Kolonialherren wie auch den Kampf des norwegischen Widerstands gegen die Besetzung durch das nationalsozialistische Deutschland, das Leid der afroamerikanischen Sklaven und ihrer Nachkommen in den US-Südstaaten bis hin zu Themen der griechischen Antike in Anlehnung an Shakespeare (Timon von Athen) und Racine (Pyrrhus und Andromache) und zum beinahe 2000 Jahre alten indischen Stoff Vasantasena (Das irdene Wägelchen). Hinzu kommt, dass er neben seinem dramatischen Hauptwerk, welches vom Expressionismus über die Neue Sachlichkeit zur antifaschistischen Exilliteratur und weiter zum Neoklassizismus der 50er Jahre reicht, auch Lyrik, Prosatexte und zahlreiche Artikel in Zeitschriften und Zeitungen publizierte, nicht zu vergessen seine Tätigkeiten als Herausgeber, Übersetzer, Dramaturg, Regisseur, Theaterdirektor und Förderer junger Autoren und Schauspieler sowie seine Anfänge als Musiker.
Politisch ließ sich Bruckner, der sich in einem Brief an Gustav Hartung als „jüdischen Vater, christlichen Bruder und verlorenen Sohn“ bezeichnete und dem aufgrund seiner ideologiefernen idealistisch-humanistischen Haltung im Exil und nach seiner Rückkehr eine Unterstützung des Kommunismus ebenso vorgeworfen wurde wie reaktionäre Positionen, nicht vereinnahmen.
Eine breite literatur- und theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bruckners Werk hat bisher nicht stattgefunden. In ausführlicheren Würdigungen und wissenschaftlichen Beiträgen wurden Bruckner und sein Werk vornehmlich aus folgenden drei Perspektiven betrachtet: Bruckner als ein Erneuerer des Theaters durch Simultandramatik und eine realistisch-psychologische Gestaltung seiner Figuren, Bruckner als eklektischer Theaterroutinier, Meister des dramatischen Handwerks, der Dialoggestaltung und wirkungsstarker Effekte, und Bruckner als Humanist und Moralist, der Probleme seiner Zeit und der Geschichte auf der Bühne analysiert, indem er sie gespiegelt in der Psyche seiner Figuren darstellt. Wichtige Impulse kamen in den letzten Jahren zudem aus der Exilforschung.
Die lange Zeit – insbesondere in der Kritik – vorherrschenden Auffassungen, dass Bruckner kein ‚Dichter’ sondern ein zeitverhafteter Autor sei bzw. dass er historisch überwundene, ideologische Standpunkte verträte, erweisen sich rückblickend selbst als zeitgebundene Simplifizierungen. Aus der historischen Distanz wie auch durch die in den letzten Jahren begonnene systematische Aufarbeitung von Bruckners Nachlass eröffnen sich neue Perspektiven. Und dass es sich lohnt, bei diesem Autor genauer hinzusehen und sein Leben und Werk aus verschiedenen Blickwinkeln zu untersuchen, mögen die Beiträge im vorliegenden Band zeigen.

Inhalt
 
Vorwort
ALMUT WINTER: Der Feuilletonist Theodor Tagger
JOAQUÍN MORENO: Der Dramatiker Theodor Tagger. Zum dramatischen Frühwerk Ferdinand Bruckners
KAROLINE SPELSBERG: Theodor Taggers Auswahlausgabe Grösse und Nichtigkeit des Menschen von Blaise Pascal: Ausdruck der existenziellen Betroffenheit des Selbst
KLAUS VÖLKER: Theodor Tagger als Theaterunternehmer und Regisseur
STEFFI RECKNAGEL: An die Kritik denke ich nur mit Aufregung, vor allem Ihering. Was ER über den Theaterdirektor, Bauherrn und Dramatiker Theodor Tagger schrieb
ELGIN HELMSTAEDT: Literarisches Theater. Der Regisseur Theodor Tagger (am Renaissance-Theater 1923-1927)
KURT BARTSCH: Wir sind alle Verbrecher. Zu Ferdinand Bruckners Schauspiel Die Verbrecher (1928) im Kontext der „Erneuerung“ des Volksstücks in den 1920er/30er Jahren
WOLF BORCHERS: Der Paragraph selbst ist der Verbrecher. Realpolitische Argumentationslinien gegen den § 175 in Die Verbrecher
PETER PHILIPP RIEDL: Macht, Moral und Machiavellismus. Die Gegenwart der Geschichte in Ferdinand Bruckners Dramen Elisabeth von England und Simon Bolivar
CORINNA SCHLICHT: Die Marquise von O. – Vergewaltigung als Familienkonflikt. Überlegungen zu Cervantes, Kleist und Bruckner
PETER ROESSLER: Die Metamorphosen des Geistigen. Dramaturgische Beobachtungen zu den Intellektuellen-Figuren in Exildramen Ferdinand Bruckners
GUNNAR SZYMANIAK: Ich müsste den ganzen Tag schreiben, dass endlich auch aus den vielen großen Plänen etwas wird. Ferdinand Bruckners stenographische Notizen vor dem Hintergrund seiner Rückkehr aus dem Exil
DAVID BARNETT: „Zwischen Verbrechern und Krankheit der Jugend [...] hab ich das Regieführen gelernt.“: Rainer Werner Fassbinder’s Debt to Ferdinand Bruckner
 
Vita
Werkverzeichnis
Forschungsliteratur
Autorinnen und Autoren