Krüger, Reinhard: ‚Kopernikanische Wende‘ und die ‚kosmologische Kränkung‘ des Menschen der Neuzeit. Kritik eines wissenschaftsgeschichtlichen Mythos der Moderne (Archäologie der Globalisierung und der Globalität, Band 2) ISBN
978-3-89693-586-1 (10/2012)
253 Seiten, 22 x 15 cm, 35 Abb., Kt., EUR 40,00 Die Entdeckung des Kopernikus, dass nicht die Erde, sondern die Sonne
sich im Zentrum des Universums befindet, stellte zwar im Jahre der Erstveröffentlichung dieses Konzepts 1453 eine wissenschaftliche Innovation dar. Doch Ansätze dazu, das heliozentrische Modell im lateinischen
Mittelalter als eine mögliche Konstruktion zu diskutieren, lassen sich bis ins 14. Jahr-hundert zurückverfolgen. Auch Giordano Brunos Vorstellung von der Vielzahl der Welten, die eine Unendlichkeit des Universums
voraussetzt, ist so originell nicht. Denn erstens wurde diese These bereits im 13. Jahrhundert an der Sorbonne gelehrt, von der Kirche dann aber verboten. Zweitens jedoch stammt Brunos Argument, dass das Universum
eine unendliche Sphäre sei, deren Peripherie nirgends und deren Zentrum überall sei, bereits aus dem Liber viginti quattuor philosophorum (Buch der 24 Philosophen) aus dem 12. Jahrhundert. Hier schließt auch Blaise Pascal an, der angesichts der Unendlichkeit zwar einen Schauder erfährt, der jedoch mit dem gleichen Argument der 24 Philosophen und Giordano Brunos den Betrachter dieses Unendlichen ins Zentrum des Universum stellt: Wenn das Zentrum des Universums überall ist, dann befindet sich sein Betrachter logischerweise immer im Zentrum des Universums. Von einer Dezentrierung der Erde und erst recht von einer Dezentrierung des Menschen kann nicht die Rede sein, sondern das Gegenteil ist der Fall. Die sogenannte Kopernikanische Wende scheint somit eher eine rhetorische Volte der Neuzeit zu sein, denn sie hat aus der Sicht der Zeitgenossen, die des Kopernikus’ Werk durchaus zur Kenntnis nehmen und die es wie Gottsched sogar feiern und mit der Leistung des Columbus vergleichen, nicht stattgefunden. Sie ist eine Erfindung späterer Jahrhunderte ebenso wie die 'kosmologische Beleidigung', die Sigmund Freund im Jahre 1917 als eine der Grundbeleidigungen des Menschen der Neuzeit identifiziert. Sie erscheint vor dem Hintergrund des 1. Weltkriegs eher als eine kulturpessimistische Projektion, denn als eine philologisch und historisch begründete und nachgewiesene Tatsache in der Seelengeschichte des neuzeitlichen Menschen. Die Thesen von der Kopernikanischen Wende und der kosmologischen Beleidigung sind geschichtsphilosophische und wissenschaftsgeschichtliche Mythen. Sie bauen auf dem Mythos vom geschlossenen Universum des Mittelalters auf, um vor diesem Hintergrund die Überlegenheit der Neuzeit vor allen anderen Epochen der Menschheitsgeschichte postulieren und rhetorisch vertreten zu können.
Inhalt Vorwort I. Kopernikus, das Astronomie-Studium in Bologna und das
‚Vergessen‘ der mittelalterlichen Kosmologie. Zur Rekonstruktion einer kollektiven Amnesie II.
Reisen in Gedanken in Spätantike und Mittelalter: Dante, Botticelli & ein Gepäcklabel der brasilianischen Fluggesellschaft VARIG III.
Petrarca, Augustinus und das zweifelhafte Vergnügen, einen Berg zu besteigen. Essai über die Geschichtlichkeit des Naturbegriffs im Mittelalter IV. Giordano Bruno und die Erfindung des unendlichen
Universums aus mittelalterlicher Tradition: mundus conclusus oder Sphaera infinita? V.
Die Bedeutungslosigkeit der irdischen Dinge bei Montaigne: Kopernikanische Wende oder naturphilosophisch-ethischer Topos? VI. Die Erfindung der mittelalterlichen Erdscheibentheorie im Zeitalter der
Aufklärung. Wie Bernard de Montfaucon im Jahre 1706 das Hexaemeron des Basilius von Caesarea mit Kosmas Indikopleustes’ topografia christiana verfälscht VII.
Cyrano de Bergerac auf der Gedankenreise zum Mond. Die naturwissenschaftlichen und technischen Bedingungen sozialer Utopien im 17. Jahrhundert VIII.
Eine Erfindung des 19. Jahrhunderts: Die ‚kosmische Kränkung‘ des modernen Menschen durch die ‚kopernikanische Wende‘ Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis Nachweis
der Erstveröffentlichungen
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