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Leitner, Gerit von: Wollen wir unsere Hände in Unschuld waschen?
Gertrud Woker und die internationale Frauenliga
ISBN 3-89693-125-3 (04/1998)
440 Seiten, 61 Abb.
vergriffen

Die Biographie Gertrud Wokers (1878-1968) ist mehr als ein spannendes Buch.
Es gibt Menschen, die sich ihr Leben lang einmischen und Zeitgeschichte und politisches Geschehen erfahrbar machen. Gertrud Woker, diese ungewöhnliche Frau, hielt zu Beginn unseres Jahrhunderts Vorträge im Weltbund für Frauenstimmrecht und klärte seit dem 1. Weltkrieg über die Zusammensetzung von Giftgasen auf.
Die Chemikerin Gertrud Woker – erste Privatdozentin für Chemie im deutschen Sprachraum – war die Fachfrau, die auch für Laien verständliche Argumentationshilfen gab zu Themen wie “Rassenhygiene”, chemische Kampfstoffe, synthetische Drogen, die Isoliertheit der wissenschaftlichen Forschung, später dann verbleites Benzin und Waldsterben. Immer geht es um Entwicklungen, die damals wie heute in kleinen, erlauchten Kreisen diskutiert und entschieden werden, obwohl sie das Leben vieler entscheidend verändern.
Frauen mahnten schon 1918 irreversible Schäden durch den Gaskrieg für spätere Generationen an und diskutierten Gebärstreik und Verweigerung der Mittäterschaft. Obwohl ihre Einmischung traditionell unerwünscht war, waren es mit Gertrud Woker Frauen aus vielen Nationen, die den 1. Weltkrieg über die Einberufung einer Vermittlerkonferenz der neutralen Länder zu beenden versuchten. Sie kamen weiter, als wir heute wissen: Präsident Wilsons Friedensprogramm stützte sich auf die Vorschläge der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit.
Der 4. Internationale Frauenligakongreß, der im Mai 1924 unter dem Motto ,A New International Order` in Washington stattfand, wurde im Vorfeld durch eine Pressekampagne diskreditiert. Ein Vorschlag aus Detroit war, die Frauen zu teeren und zu federn.
1928 bekundeten innerhalb kurzer Zeit 33 Städte in Deutschland ihr Interesse, einen Vortrag der Schweizer Naturwissenschaftlerin zu hören. “War es die nicht zu verleugnende Gegenwartsnähe der aufgeworfenen Fragen, war es ehrliche Überzeugung zur Sache, was die Massen angezogen hatte? – Jedenfalls waren sie gekommen. Man sah der kleinen, leicht ergrauten, lebhaften Frauengestalt die erfahrene Wissenschaftlerin, vielleicht auch in etwa die gewiegte Parlamentarierin an.” (Rheinische Zeitung, 1929) In der Nazizeit wurden ihre Schriften verbrannt.
Gertrud Woker kämpfte in Bern seit 1907 für ein noch junges Lehrgebiet. Ihr Anliegen war es, über die Verknüpfung der Disziplinen angehenden Naturwissenschaftlern das komplexe System ineinandergreifender biologischer, chemischer und physikalischer Reaktionen begreifbar zu machen. Durch die frühe Spezialisierung im Studium sah sie nicht nur die Studenten um den nötigen Überblick gebracht, sondern auch die Verantwortung des Forschers für sein Tun an den Rand gedrängt. Nach ihrem Austritt aus dem Lehrkörper 1951 faßte sie in Die Chemie der natürlichen Alkaloide ihre jahrzehntelangen Betrachtungen biochemischer Zusammenhänge zusammen und fand ein unerwartet breites Echo in chemischen, biologischen, pharmazeutischen und medizinischen Fachzeitschriften.
1952 forderte die akkreditierte Konsulantin der Frauenliga bei der UNO Gertrud Woker zur Stellungnahme zu den wissenschaftlichen Kriegsmethoden im Koreakrieg auf. Bis 1965 trug sie ihre Berichte auf Kongressen und Exekutivsitzungen der Frauenliga vor. Sie schrieb an Politiker und Institutionen und erhielt Briefe von Frauen aus der ganzen Welt, die ihr im Vertrauen auf Hilfe über genetische Mißbildungen ihrer Kinder berichteten. Zum Zeitpunkt der Eskalation chemischer Kriegführung in Vietnam brach Gertrud Woker im Alter von 88 Jahren zusammen.

Dr. phil. Gerit von Leitner ist Historikerin, Pädagogin und Autorin von Film- und Hörfunkproduktionen. Sie hat in ihrem ersten Buch Der Fall Clara Immerwahr gezeigt, daß sie ihr aufwendig recherchiertes Wissen mit ihrer zeitgeschichtlichen Kenntnis zu einem lebendigen Bild zu verbinden vermag. Wollen wir unsere Hände in Unschuld waschen? beschreibt eine mutige Frau, die in ihrem Fachgebiet Wichtiges geleistet hat, deren Name aber keinem Studenten der Chemie begegnet.
Auch das Wirken der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit wird bisher von den Geschichtsbüchern ignoriert.

Inhalt

1. Die Kühe sahen friedlich auf meine Entdeckungsreisen hinunter
1878-1898
Kindheit und Jugend in Bern und Erfurt

2. Die Wirkungsmechanismen der Katalysatoren sind so vielfältig wie die Reaktionen
1898-1905
Studium in Bern und Berlin

3. Der Student der Naturwissenschaften sollte die Natur als lebendige Einheit erfassen und nicht ausschließlich als ein in Einzelfächer zerhacktes Gebilde
1906-1911
Privatdozentin in Bern und Vorträge zum Frauenstimmrecht in Deutschland

4. Es genügt nicht, den Frauen die Universitäten zu öffnen – sie sollen teilnehmen am Gesamtleben des Staates
1911-1913
Vom Kampf um ein noch so primitives Institut von selbständigem Gepräge

5. Die Entscheidung über Krieg und Frieden war der Frau versagt – wollen wir darum unsere Hände in Unschuld waschen?
1915-1916
Gründung des internationalen und der nationalen Frauenkomitees für dauernden Frieden
6. Der Krieg hat auch in die Stille meiner wissenschaftlichen Arbeit verheerend eingegriffen
1917-1918
Giftgasversuche an der Universität Bern – Diskussion um Mittäterschaft, Erziehung zum Frieden, auf die Nachkommen sich übertragende Gifte, Gebärstreik und Abtreibung auf dem Internationalen Frauenkongreß für Völkerverständigung in Bern

7. Methoden der Gewaltanwendung, an denen Sieger und Besiegte zugrunde gehen
1919-1923
Nachkriegswirren im todwunden Europa

8. Wir haben es den Gegnern nicht erlaubt, uns einzuschüchtern
1924
Besichtigung des Edgewood-Arsenals mit der amerikanischen Chemiker-Gesellschaft und ‘Pax Special’ der Internationalen Frauenliga in den USA

9. Wie steht es mit der Achtung vor dem menschlichen Leben?
1924/5
Pazifistische Erfolge des ‘Internationalen Komitees gegen den wissenschaftlichen Krieg’ in Europa

10. Ich begreife, daß sie die Sache vertuschen und auf eine Psychose meinerseits abladen
1925
Politische Verfolgung in den USA

11. Zum Heil und Schutz unseres Volkes und seiner heranwachsenden Jugend
1926-1930
Aufklärung der Internationalen Frauenliga zu modernen Kriegsmethoden und zu Opium und Rauschgiften
12. Ich wäre nicht einmal pensionsberechtigt – falls eine Altersgrenze auch in den katastrophalsten Fällen aufrecht erhalten wird
1933-1945
Ernennung zur außerordentlichen Professorin der Universität Bern, Gründung der ‘Schweizerischen Zeitschrift für Biochemie’ und Aufklärung der Frauenliga zur Fragwürdigkeit von Luftschutz im Giftgas- und Bakterienkrieg

13. Das chemische Laboratorium der Pflanze ist jedem Forschungs- und Industrielaboratorium überlegen
1945-1968
Zur Schädigung durch Bleibenzin, zu künstlich erzeugten Epidemien, zu Reaktoren als Volksgefahr und zur natürlichen Chemie der vegetabilischen Basen – Wiederaufbau der Internationalen Frauenliga nach dem 2. Weltkrieg

Quellen
Ausgewählte Literatur
Tabelle der Frauenligakongresse und ihrer Forderungen 1915-1968
Register